Abmahnungen gegen Gesundheits-Tools: Wenn harmlose Health-Apps zu rechtlichen Stolperfallen werden
Online-Gesundheitstools boomen, doch viele Betreiber unterschätzen die rechtlichen Risiken. Wann wird aus einem simplen BMI-Rechner ein regulierungspflichtiges Medizinprodukt? Und warum schützen Disclaimer nicht vor Abmahnungen?
BMI-Rechner, Diabetes-Risikotests und andere digitale Gesundheitstools sind heute fester Bestandteil vieler Websites. Sie scheinen harmlos und nützlich, doch genau diese Einschätzung kann teuer werden. Immer häufiger geraten solche Anwendungen ins Visier von Abmahnungen und behördlichen Prüfungen. Der Grund: Viele Betreiber verkennen, ab wann ihre Software rechtlich als Medizinprodukt gilt und welche strengen Anforderungen der Medical Device Regulation (MDR, Verordnung EU 2017/745) sich daraus ergeben.
Die entscheidende Grenze: Berechnung vs. medizinische Interpretation
Der Knackpunkt liegt nicht in der reinen Zahlenermittlung, sondern in deren medizinischer Bewertung. Eine einfache BMI-Berechnung ist völlig unproblematisch – sie liefert lediglich einen mathematischen Wert ohne diagnostischen oder therapeutischen Zweck.
Kritisch wird es erst bei der Interpretation: Sobald die Software diesen Wert medizinisch einordnet und beispielsweise ausgibt “Sie sind adipös” oder warnt “Ihr Risiko für Typ-2-Diabetes ist erhöht”, überschreitet sie die Schwelle zum Medizinprodukt. Hier findet eine Subsumtion individueller Vitaldaten zu einer medizinischen Einschätzung statt.
Weitere Beispiele für kritische Funktionen:
Unbedenklich bleiben hingegen: Generelle Gesundheitsinformationen wie der Hinweis, dass Übergewicht ein Risikofaktor für Diabetes ist – sofern diese nicht patientenindividuell und handlungsleitend sind.
Disclaimer-Mythos: “Diese App ersetzt keinen Arzt” hilft nicht
Ein weit verbreiteter Irrglaube unter Anbietern: Hinweise wie “Nur zu Informationszwecken” oder “Diese App ersetzt keinen Arzt” würden vor regulatorischen Anforderungen schützen. Diese Strategie ist wirkungslos.
Die MDR stellt zwar auf die Zweckbestimmung ab, diese wird jedoch nicht nur subjektiv bewertet. Behörden und Gerichte prüfen objektiv, ob die Software-Funktion geeignet ist, medizinische Entscheidungen zu beeinflussen. Ein Haftungsausschluss ändert daran nichts – der regulatorische Anwendungsbereich richtet sich nach der tatsächlichen Funktion, nicht nach Marketingaussagen.
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EuGH-Rechtsprechung bestätigt objektiven Bewertungsmaßstab
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stützt diesen Ansatz eindeutig:
Snitem/Philips-Entscheidung (7. Dezember 2017, C 329/16): Der EuGH stellte klar, dass Software, die Patientendaten nutzt, um medizinisch relevante Informationen wie Kontraindikationen oder Wechselwirkungen zu liefern, ein Medizinprodukt ist – auch ohne physische Wirkung am menschlichen Körper. Entscheidend sind die medizinische Zweckbestimmung und die Fähigkeit, Entscheidungsprozesse zu beeinflussen.
Die frühere “Brain Products”-Entscheidung (C 219/11) wird oft fälschlicherweise als Argument für die Wirksamkeit von Disclaimern herangezogen. Doch auch hier stellte der EuGH klar: Die Zweckbestimmung des Herstellers darf nicht losgelöst von der tatsächlichen Produktfunktion betrachtet werden.
Die Linie ist eindeutig: Wenn Software objektiv dazu bestimmt ist, patientenspezifische Daten für medizinische Entscheidungen nutzbar zu machen, reicht eine gegenteilige Behauptung nicht aus.
Verschärfte Anforderungen durch die MDR
Mit der MDR haben sich die Anforderungen zusätzlich verschärft, insbesondere bei der Risikoklassifizierung.
Regel 11 in Anhang VIII der MDR:
- Klasse IIa: Software, die Informationen für diagnostische oder therapeutische Entscheidungen liefert
- Klasse IIb: Bei potenziell schwerwiegenden Konsequenzen (Verschlechterung des Gesundheitszustands, chirurgische Eingriffe)
- Klasse III: Bei Lebensgefahr
- Klasse I: Nur reine Datenspeicherung oder Visualisierung ohne Interpretation
Praktische Auswirkungen: Vollständige Konformitätsbewertung erforderlich
Diese Regelung hat weitreichende Konsequenzen: Viele Anwendungen, die früher als Klasse-I-Produkte galten, müssen nun ein vollständiges Konformitätsbewertungsverfahren mit Beteiligung einer Benannten Stelle durchlaufen.
Eine falsche Risikoklassifizierung macht die CE-Kennzeichnung irreführend – mit der Folge behördlicher Maßnahmen und wettbewerbsrechtlicher Abmahnungen.
Ärztevorbehalt schützt nicht vor Medizinprodukte-Regulation
Das Argument, Software könne kein Medizinprodukt sein, weil Diagnose und Therapie berufsrechtlich Ärzten vorbehalten sind, greift nicht. Die MDR knüpft nicht an die tatsächliche Behandlungsdurchführung an, sondern an das Risiko bei der Beeinflussung medizinischer Entscheidungsprozesse.
Auch wenn der Arzt die finale Entscheidung trifft, entbindet dies den Hersteller nicht von CE-Kennzeichnung und vorgeschriebenem Konformitätsbewertungsverfahren.
Fazit: Compliance statt Disclaimer
Die Konsequenz ist eindeutig: Wer patientenspezifische Analysen oder Risikobewertungen anbietet, muss die Software als Medizinprodukt einstufen, korrekt klassifizieren und ein vollständiges Konformitätsbewertungsverfahren durchführen.
Disclaimer und rechtliche Vorbehalte sind kein Ersatz für regulatorische Compliance. Anbieter, die dies ignorieren, riskieren:
- Abmahnungen
- Vertriebsverbote
- Bußgelder
- Haftungsansprüche im Produkthaftungsrecht
Die Botschaft ist klar: Rechtssichere Gesundheitstools erfordern mehr als einen Disclaimer – sie brauchen vollständige regulatorische Compliance von Anfang an.
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